Henky Hentschel

Brief aus Havanna

Freunde, Feinde, Mitmenschen!

Als Vorspeise ein Zitat:
"... und ich riß mich am Riemen und biß die Zähne zusammen und schiß auf die Kultur, die mit ihrer dämlichen Metaphysik immer der Glückseligkeit in die Quere kommt."
Das steht so in "Drei traurige Tiger", diesem ernsthaft verrückten Cuba-Roman von Guillermo Cabrera Infante, dem Mann, der später seinem Land gegenüber fast so gehässig wurde wie Zoe Valdès, und das ist nicht leicht. Beide sind ausgewandert, abgehauen oder desertiert, wie das hier offiziell heißt. Beider Blut ist gesättigt mit Partikeln afrohispanischer Kultur, das Cabreras mit vorrevolutionären, von US-Viren infizierten Teilchen, das der jungen Obszönen mit neueren, die die Revolution geformt hat.
Aber Cabrera ist im Hain eines kulturellen Wäldchens groß geworden, während die Valdés schon als Kind durch einen kulturellen Regenwald trippelte. Daß Metaphysik und Glückseligkeit nicht unbedingt Zwillinge sind, haben sie beide bemerkt. Daß die Abwesenheit des einen das Wachstum der anderen erleichtern würde, ist allerdings auch eine schwer zu haltende These.
Hier ist seit einer Weile der Sommer vorbei, ein Rekordsommer. Selten haben die Cubaner so viel Schweiß vergossen (was sie auf Grund ihrer subtropisch-sozialistischen Intelligenz gar nicht gerne tun). Selten haben die Hautpilze so viel Boden gut gemacht. Selten ist das kulturelle Angebot so ins Kraut geschossen. Wenn ich noch wäre, wie ich als junger Mann war, als ich auf jede Vernissage gerannt bin, in jedes Konzert und in alle Theater, ich hätte den Schöpfer bitten müssen, mich zu klonen - und zwar mehrfach.
Meiner heutigen Reife entsprechend habe ich das Überangebot damit bekämpft, daß ich mich weigerte, meine Stammkneipe mehr als einmal die Woche alleine zu lassen. Nicht nur, daß Karneval war und die großen Wagen mit den federgeschmückten Mulattinnen und afrocubanischen Tanzgruppen den überfüllten Malecon hinunterzogen, daß an der 'Piragua' Issac Delgado seine Salsa in die feuchtheiße Luft der Nächte schleuderte, daß der 'Salon Rosado' der Brauerei 'La Tropical' - dieser mythische 'Salon Rosado', der eigentlich ein Amphitheater unter den Sternen ist wie das 'Tropicana' - daß dieser Salon Tanzmusik rund um die Uhr anbot und zwar vom Feinsten, daß im 'Coppelia', dem Eistempel im Vedado, die Pop-, Rock- und Rapgruppen Tausende aus dem Häuschen brachten, neinnein, das war beileibe nicht alles. Da war der Zirkus, da erschien peruanische Folklore, da eröffnete Manuel Mendive eine Ausstellung, Cubas Schlachtschiff der bildenden Künste, dem sie in Miami auch schon mal öffentlich sein vielleicht bestes Bild (es stellte einen harmlosen Pfau dar) öffentlich verbrannt haben, nur weil er in Cuba lebt. Da waren Theaterpremieren, Puppenspiele, Kindertheater, Vernissagen, Rumbas und Boleros, Humoristen, Chöre, lyrische Lieder und und und. Die Qual der Wahl wurde zu schmerzhaft, und ich hielt mich da raus.
Der Sommer ist vorbei und jetzt steuern wir die Zeit der Festivals an, des Jazz-Festivals, des Theater-Festivals, des Tanz-Festivals, des Festivals des lateinamerikanischen Films, der Biennale von Havanna, und bestimmt habe ich bei dieser Aufzählung noch zwei oder drei vergessen.
Wie ein Land der Dritten Welt mitten in einem Wirtschaftskrieg der USA all das auf die Beine stellen und zum Teil aus dem Boden stampfen kann, wird vielen ein Rätsel sein. Das Rätsel hat eine Lösung: Am Anfang war das Wort, und das Wort war Fidel, und Fidel war das Wort, und das Wort erklärte Kultur zu einem Artikel, der allen zusteht und nicht einer Elite und nicht irgendwelchen Impresarios und nicht irgendwelchen Agenten und nicht dem Fernsehen. Ohne eine Kultur der Massen, meinte der Comandante, bekommen wir auch keine politische Kultur, und ohne die können wir Washington gegenüber einpacken.
Die Cubaner kleckern nicht, sie klotzen. Gab es vor dem Sieg der Revolution zwei Kunstschulen im ganzen Land, sind es heute 46. Rund 14000 Studenten haben in den letzten vierzig Jahren an der Kunsthochschule ihren Abschluß gemacht. Aus neun Galerien sind mehr als 120 geworden, und mitten in der Krise produziert das Land rund 30 Filme pro Jahr. Jetzt läuft ein ehrgeiziger Plan, innerhalb von zehn Jahren 40000 zusätzliche Kunstlehrer auszubilden.
Läge Cuba weiter nördlich, könnte man sagen, daß Company Segundo, Mendive, Buena Vista Social Club, Erdbeer und Schokolade oder Chucho Valdés die Spitzen einiger Eisberge sind. Hier sieht man sie eher als die wuchtigen Riesen in einem cubanischen Kult-Urwald. Und dieser Wald wächst weiter, denn längst wuchert er nicht nur in Havanna und den Provinzhauptstädten. Da geht das Nationalballett in die Berge des Ostens, und Alicia Alonso, weltberäumt, tanzt vor Männern aller Hautfarben, die zu Pferde gekommen und stundenlang geritten sind, um sie zu sehen. Das staatliche Symphonie-Orchester reist in Zuckerdörfer, die so weit ab liegen, daß kein Tourist sie jemals zu sehen bekommt. Die Nationaloper macht sich mit ihrem ganzen Tross in den unwegsamen Escambray auf, und der Musiker Felix Chapotím taucht mit seiner Gruppe unversehens auf einem Festival des Son auf, das allenfalls lokale Bedeutung hat. Die Kultur in diesem Land hat sich auf die Socken gemacht, und ihre Anwesenheit im täglichen Leben ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Wo 12000 Künstlergruppen mit nahezu 70000 Mitgliedern (Gesamtbevölkerung: elf Millionen) rund 250000 Vorstellungen im Jahr geben und von dieser Arbeit auch noch leben können, hat sie eine Barriere übersprungen und gehört den Leuten. Die zahlen einen Obolus von einem bis drei cubanischen Pesos, das sind zwischen zehn und dreißig Pfennig, falls irgendein Spektakel sie anzieht. Dafür bekommen sie, was Cabrera Infante nicht glauben mag: ein bißchen Glückseligkeit, gepaart mit Metaphysik.

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